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Stephanie Abben „broken windows” - Eine Annäherung.

Unter dem Schlagwort „broken windows“ haben die beiden US-amerikanischen Sozialforscher James Q. Wilson und George L. Kelling ein Konzept entwickelt und 1982 erstmals öffentlich erwähnt, das Unordnung und Zerstörung innerhalb von gesellschaftlichen Systemen als Folgeprozesse unentwirrbar miteinander verknüpft. Die „broken windows“ Theorie findet vor allem in der Kriminaltheorie Beachtung und besagt, dass in eher sozial schwachen (Stadt)Systemen, die ein per se zum Chaos tendierendes, gesellschaftliches Potential haben und zu Verwahrlosung tendieren, eine zerbrochene Scheibe an einem bereits maroden, aber nicht zerstörten Gebäude der maßgebliche Auslöser für weitere Zerstörung, Gewalt und in der Folge sich verselbstständigende chaotische Zustände sein könnte.

Die Geste der zerbrochenen Scheibe ist einerseits Spiegel des persönlich erlebten gesellschaftlichen Status einzelner Mitglieder und gleichzeitig Symbol für die gesellschaftliche Situation der Randgruppe an sich. Sie wirkt nach Wilson und Kelling wie eine Aufforderung gegen das Erlebte zu rebellieren und weiter zu zerstören. Dabei könnte die Zerstörung auf die Handelnden eine reinigende und lindernde Funktion haben: In der aggressiven Handlung gegenüber der äußeren Welt zeigt sich ein großer Anteil autoaggressiver Aspekte, die darauf zielen den schmerzhaft erlebten inneren Zustand zu zerstören, um eine umfassende, auch äußere Neudefinition im Großen und Ganzen zu ermöglichen.

Eine Geste initiiert sozusagen eine Handlung und verbildlicht letztlich das alte Prinzip der Katharsis. Reinigung durch Schmerz.

Dass Stephanie Abben beim Betiteln ihrer Ausstellung in der Galerie des Kunstvereins Junge Kunst Trier auf die Theorie von Wilson und Kelling anspielt, ist anzunehmen.
Unordnung und Zerstörung sind demnach wichtige Momente ihrer Malerei. Formal betrachtet herrscht auf den Bildern von Abben zumindest teilweise Unordnung. Grobe, wilde, dunkle Striche markieren hier den Duktus und begründen den Eindruck eines sich aus der Malerei an sich heraus entwickelnden, gegenstandslosen chaotischen Zustandes. Auf der durchaus gewollt erzählenden Ebene der Malerei setzt sich dieser Eindruck ebenfalls teilweise fort. Dabei bleibt die Darstellung von Chaos und Zerstörung immer gestisch, schemenhaft, enigmatisch, im Gegensatz zu anderen Abhandlungen in den Bildern, die meist Landschaftdarstellen, die sich ebenfalls aus der Malerei an sich heraus zu entwickeln scheint. Hier herrscht bisweilen eine heitere, fast romantisch anmutende Stimmung.

Formal und inhaltlich konstruiert Stephanie Abben Gegensätze, komponiert einen Zyklus von möglichst ungeordneten Illusionen und zerstört ihn im selben Moment wieder. Die Geste der Unordnung zieht – wie bei Wilson und Kelling die Handlung der Zerstörung nach sich. Was bleibt, ist ein rätselhafter Moment, ein Stocken, ein Zweifel, ein Bruch, ein Unbehagen. Eine innere Leere, die auffordert gefüllt zu werden. Fast schmerzhaft entwickelt sich eine Suche, die weit über die Bildebene hinausweist und nach Klärung verlangt. Es entsteht eine Interaktion zwischen Objekt und Subjekt und eine Kommunikation zwischen Innen und Außen. Es ist der Moment, an dem die weiße, leere Fläche im Bild nicht mehr übersehen werden kann und schmerzlich unmissverständlich in den Vordergrund tritt. Leere, formal und inhaltlich, die perfekte Projektionsfläche. Offen für Klärung, Reinigung, Neudefinition. Kathartisch. Aus der Malerei an sich heraus. Aus der Bildkomposition.
Geradezu auffordernd und provokativ dominiert die Leerstelle zu diesem Zeitpunkt der Betrachtung die Bildrealität. Sie zeigt sich stets als Teil eines größeren Ganzen, das lediglich angedeutet ist. Das auf bekannte Symbole oder Weltwissen zurückgreift.

Wie viel Konkretes ist nötig, um einen Gegenstand als Gegenstand darzustellen und wahrzunehmen? Wie viel individuelle Handlung in der Rezeption ist nötig, um das übergeordnete Ganze zu (re)konstruieren und das Bild zu aus der Leerstelle heraus - dem „Blinden Fleck“ - zu Ende zu lesen?

In der Sozialpsychologie markiert der Begriff des „Blinden Flecks“, den Teil des Ichs oder Selbst der nicht wahrgenommen wird oder nicht wahrgenommen werden möchte. Den Anteil des Selbst, an dem jeder gerne am liebsten vorbei schauen würde. Und doch der Moment, an dem das größte Wachstum möglich ist: Fixiere einen fast unsichtbaren Stern und du erkennst ihn nicht. Schaust du an ihn vorbei zeigt er seine wahre Gestalt. So erschließen sich Stephanie Abbens Bilder aus der weißen Fläche, dem „Blinden Fleck“ heraus. Bei Fokussieren entsteht ein Perspektivenwechsel im Innen, und im Erahnen der Bildwirklichkeit aus der Leere heraus zeigt sich die Bildwirklichkeit im Außen neu. Die gestische Malerei kann aus dieser Position neu geordnet und weiter erzählt werden. Individuell mit der Verfügbarkeitsheuristik der betrachtenden Individuen.

„Für mich ist ein Bild dann in gutes Bild, wenn zehn Betrachter, zehn verschiedene Zugänge dazu entwickeln“ so Stephanie Abben. Was zeigt, dass nichts dem Zufall überlassen ist. Die zugleich rätselhafte Malerei ist mit einem umfassenden Wissen unterlegt, malerisch durchdacht und komponiert. Sie fordert sehr undidaktisch auf, neben der Kunstbetrachtung in eine Selbstbetrachtung zu versinken, was echtes, selbst wirksames Kunsterleben möglich macht. So entwickeln sich als unentwirrbar miteinander verknüpfte Folgeprozesse aus Gesten Handlungen. Sie zielen auf die Zerstörung der, die Wirklichkeit verschleiernden Illusion, das Erkennen des „Blinden Flecks“ und eine nach Wachstum strebende Neudefinition hin. Womit der Kreis sich schließt und „broken windows“ Anfang und Ende dieser außergewöhnlich dichten, geistreichen, technisch ausgereiften und höchst ästhetischen Malerei markieren. Glücklich die, die sie gesehen haben.

Christina Biundo, 2015